Grauzonen der Freiwilligkeit

Dienststelle in der Nebenstelle Montabaur des Arbeitsamtes Niederlahnstein, um 1940 © SEAD-BA
Meike Katzek

By Meike Katzek

Meike Katzek studiert Geschichte im Master an der Universität Erfurt.

Grauzonen der Freiwilligkeiten. Podiumsdiskussion zur Bedeutung „freiwilliger“ Mitwirkung an nationalsozialistischen Verbrechen.

„Keine Diktatur kann ohne Freiwilligkeit überleben“, so konstatierte Thomas Lindenberger zum Abschluss seines Eingangsplädoyers der Podiumsdiskussion. Das gilt doch wohl nur für ideologiefeste Akademiker:innen, Verwaltungsfachleute oder Offiziere, die enthusiastisch bei der Sache sind, mag man im ersten Augenblick denken. Doch zum einen gestaltet sich freiwilliges Handeln diverser, als es den Anschein macht. Zum anderen muss auch nach der Verantwortung von breiteren Bevölkerungsteilen für ihre Rolle in einem menschenverachtenden Gesellschaftssystem gefragt werden, um ein tieferes Verständnis für sein Funktionieren zu erlangen, jenseits der Handlungsmotive von aktiven Überzeugungstätern. So entwickelt die geschichtswissenschaftliche Forschung sowie Gedenkstättenarbeit schon länger neue Ansätze zur Analyse systemkonformen Handelns in Diktaturen, die sich nicht allein in der Frage nach der ideologischen Überzeugung erschöpfen. Darum bemühen sich auch das Teilprojekt unserer Forschungsgruppe „Freiwilligkeit und Diktatur“ sowie die Arbeiten unserer Mercator-Fellow Alexandra Oeser.

Mit diesem Forschungsinteresse an Fragen zum „freiwilligen Mitmachen in Diktaturen“ luden das Projektteam Christiane Kuller und Elena M. E. Kiesel Historiker:innen und Vertreter:innen der Gedenkstättenarbeit in Thüringen am 6. Dezember 2022 zu einer Podiumsdiskussion ein. Prof. Dr. Thomas Lindenberger (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung, TU Dresden), PD Dr. Annegret Schüle (Oberkuratorin des Erinnerungsortes Topf & Söhne, Erfurt) und Prof. Dr. Jens-Christian Wagner (Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, FSU Jena) traten in eine rege Diskussion mit der Forschungsgruppe und dem Erfurter Publikum am Erinnerungsort Topf & Söhne. Das Unternehmen Topf & Söhne mit einer Vielzahl von Mitarbeitenden stellte während der NS-Zeit Verbrennungsöfen für Konzentrationslager her. Schon der Erinnerungsort in den Gebäuden des ehemaligen Ofenbaubetriebes wirft Fragen nach „freiwilliger“ Mitwirkung von „ganz normalen Bürgern“ am Holocaust auf. Hier ein paar Beobachtungen aus der spannenden Diskussion:

Freiwilligkeit, Pflichtdienst, Zwangsarbeit

Dass Freiwilligkeit auch in diktatorischen Regimen eine systemtragende Rolle spielt, wurde im Laufe des Abends anhand unterschiedlicher Kontexte deutlich. So wies Annegret Schüle darauf hin, dass Freiwilligkeit bzw. Mitmachen als Frage eher auf die „kleinen Leute“ bezogen werde. Die historische Untersuchung freiwilligen Handelns wird also gerade in Situationen besonders interessant, in denen es darum ging, wie diese Menschen Entscheidungen trafen – Handlungsbedingungen und -konsequenzen genau abzuwägen. Zu fragen, ob Hitler freiwillig gehandelt hätte, scheint dagegen überflüssig. Freiwilligkeit lässt sich nicht auf ideologischen Enthusiasmus reduzieren, muss einem diktatorischen Zwang aber ebenso nicht unbedingt entgegenstehen. Sie steht vielmehr ähnlich dem Konzept des Eigen-Sinns dazwischen oder auch auf beiden Seiten. Freiwilliges Mitmachen findet sich zudem sowohl im Bereich staatskonformen Handelns als auch im Widerstand. Bereits hier wird in der Debatte die Frage deutlich, ob oder wie zielführend es ist, danach zu fragen, ob Handeln oder „Mitwirkung“ tatsächlich freiwillig war, oder ob nicht eher die jeweiligen Bedingungen von freiwilligem Handeln interessanter sind.

Poster zu unserer Podiumsdiskussion über freiwilliges Mitmachen im Nationalsozialistischen Deutschland, Dezember 2022 am „Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“ in Erfurt.

Doch zunächst identifizierte Thomas Lindenberger nicht den Zwang, sondern die Pflicht als wichtigen Bezugspunkt freiwilligen Handelns. Historisch trat die Freiwilligkeit in der Geschichte bürgerlicher Gesellschaften an die Stelle der Dienstpflicht und ersetzte staatliche Infrastruktur, z.B. im Falle der Feuerwehren. Doch auch unter Pflichtverhältnissen ist die Frage nach Entscheidungsfreiheiten und Freiwilligkeit relevant. Denn, so bemerkte Lindenberger, auch die Einführung von Pflichtdiensten im Nationalsozialismus – 1935 der Reichsarbeitsdienst und 1943 die Dienstverpflichtung – stieß nicht unbedingt auf gesellschaftliche Gegenwehr. So identifizierten die Gäste im Laufe der Diskussion die Pflicht und den Zwang eher als Konzepte, die der Freiwilligkeit antinomisch – also gegensätzlich und doch verbunden – gegenüberstehen. Denn Freiwilligkeit und Pflicht funktionieren nicht unbedingt binär, sondern teilen sich die Gemeinsamkeit eines Ethos des Dienstes an der Gemeinschaft.

Auch Jens-Christian Wagner wies auf die vielen Schattierungen hin im kategorialen Nachdenken über eine mögliche Trias, die man als Freiwilligkeit – Pflicht – Zwang entfalten könne. Die Diversität der individuell-situativen Umstände lassen die Grenzen zwischen freier Lohnarbeit, Dienstpflicht und Zwangsarbeit verschwimmen. Eine wichtige Rolle spielte auch die nationalsozialistische Rassenideologie, aufgrund derer (Zwangs)Arbeit sehr unterschiedliche Bereiche von „freiwilligem“ Handeln eröffnen (und schließen) konnte und sehr divergierende historische Umstände aufzeigt. Auch die vielfältige Ausgestaltung von Dienstpflichten eröffnete unterschiedliche Handlungsräume. Rückblickend entzünden sich an der Frage der „Freiwilligkeit“ nicht selten Erinnerungskonflikte: Wie ist z.B. der Fall eines Hugo Dornhofer einzuordnen, der zwar 1943 dienstverpflichtet wurde, allerdings als Bauleiter in einem normalen Arbeitsverhältnis stand und unter Erhalt eines normalen Arbeitslohns im KZ Mittelbau-Dora den Ausbau von Infrastruktur überwachte?

Freie Lohnarbeit und Eigen-Sinn

Photo: “Erinnerungsort Topf & Söhne”, 06. Dezember 2022

Doch besonders der historische Kontext freier Lohnarbeitsverhältnisse im Nationalsozialismus – wie etwa bei der Belegschaft von Topf & Söhne – erscheint fruchtbar, um ihn nach Situationen der Freiwilligkeit zu befragen. Dabei gab Annegret Schüle allerdings zu bedenken, dass die Mitwirkung der Angestellten im normalen Arbeitsalltag des Unternehmens Topf & Söhne auf einem arbeitsvertraglichen Verhältnis beruhte. Wer seiner Arbeit nachkam und am verbrecherischen System mitwirkte, handelte von daher nur bedingt „freiwillig“. Doch führte sie ebenso an, dass die Bedeutung von Freiwilligkeit insbesondere vor dem Hintergrund der nach 1945 angeführten Exkulpationsstrategie – „man hätte ja keine Wahl gehabt“ – zum Tragen kommt. Welche Handlungsoptionen gab es wirklich? Tatsächlich zeigte sich früh in der Aufarbeitung der Geschichte, dass teilweise die individuelle Arbeit von Mitarbeiter:innen über das Erfüllen von Vertragspflichten hinausging, da auch noch in der Freizeit oder im hohen Alter für die Firma gearbeitet wurde. Außerdem ist aus der historischen Forschung bekannt, dass die deutschen Ofenbauer-Firmen durchaus eine Wahl bei der Entscheidung über eine Kooperation mit dem NS-Regime hatten – von sechs Firmen beteiligten sich drei. Die Führungen der Unternehmen und ihre Angestellten kooperierten und unterstützten folglich auch jenseits von Vertragspflicht und Regime-Zwang.

Jedoch ist es aus der Perspektive der Forschenden oft schwierig abzuwägen, welches individuelle Bewusstsein bei den historischen Akteur:innen über die Effekte ihrer kooperierenden oder fördernden Handlungen und damit über eine mögliche Mittäter:innenschaft bestand – so auch für jede:n einzelne:n Mitarbeiter:in bei Topf & Söhne. Im Rahmen der Arbeitsverhältnisse füllten sie ihre Aufgaben auch mit einem eigenen Sinn, der der historischen Forschung nicht immer zugänglich ist. Hier gilt es, eine alltägliche „Normalität“ des Handelns im Unternehmen verbunden mit ökonomischen oder privaten Interessen in den Blick zu nehmen, um sich einer Perspektive der handelnden Akteur:innen zumindest anzunähern.

Freiwilligkeit als ethische Kategorie

Trotz der skizzierten Schattierungen, die im Nachdenken über Handlungsoptionen und -bedingungen sichtbar werden, bleibt Freiwilligkeit als Zuschreibung auch ein machtvolles ethisches Kriterium für die Bewertung einer Handlung. Fragt man nach freiwilligem Handeln durch Opfer, spitzt sich diese ethische Bedeutung zu. Hier betonte Wagner, dass bei Handlungen von Funktionshäftlingen nicht von Freiwilligkeit gesprochen werden könne, da es ein kategorialer Unterschied wäre, wer hinter und wer vor dem Zaun gestanden hätte. Selbst die Handlungsoptionen, die es gab, könnten angesichts der willkürlichen und immer existenziell bedrohenden Handlungsbedingungen nicht be- oder gar verurteilt werden. Dennoch, so wäre es ein Argument der Forschungsgruppe, sind es genau diese situativen Momente, in denen es wichtig wird zu zeigen, wie Freiwilligkeit als Zuschreibung funktionierte. Dies führt auch in eine immer schwierige Täter-Opfer-Debatte. Schließlich betont die Forschung, dass Häftlinge immer auch als Subjekte zu sehen seien. Der historische Anspruch der Ermächtigung durch die Zuschreibung von Handlungsmacht über Freiwilligkeit könnte allerdings mit der Frage nach freiwilligem Handeln von Opfern in eine Relativierung der Verantwortung der Täter umkippen. An dieser Stelle könne eine ethische Grenze der Kategorie Freiwilligkeit aufgezeigt werden, so ein Einwand aus dem Publikum, der in der Diskussion kritisch aufgenommen wurde. Alexandra Oeser schlug beispielsweise vor, zwischen freiwilligen Handlungen von Opfern und Tätern zu differenzieren und die Begriffe der „passiven“ und „aktiven Freiwilligkeit“ einzuführen. Andere betonten, dass auch diese Differenzierung der Zuschreibung von Freiwilligkeit an die Opfer nicht die ethische Konnotation nehme.

Es zeigte sich, dass beim Fragen nach „freiwilliger“ Mitwirkung an den Verbrechen des Nationalsozialismus insbesondere in Bezug auf die ethische Dimension der Freiwilligkeit ein sensibler Umgang gefordert ist. Um nicht vorschnell Urteile über die historischen Akteur:innen und das Maß ihres Mitmachens zu fällen, ist methodische Präzision und genaues Hinsehen gefragt. Es gilt auf die historisch-situativen Umstände zu achten, zugleich die handelnden Akteur:innen ernst zu nehmen und ihren Handlungen die notwendige Komplexität zuzugestehen. Dazu ist es notwendig, freiwilliges Handeln in seinen vielen graduellen Abstufungen, Entscheidungsbedingungen und -konsequenzen zu untersuchen. Am Ende bleibt die Verantwortung, bei der Forschung über freiwilliges Mitmachen die ethische Aufladung des Begriffes mit zu bedenken. „Freiwilligkeit“ ist somit ein – möglicherweise besonders komplexer, aber auch besonders aufschlussreicher – Begriff, der auf ein Grundproblem historischer Urteilsbildung verweist.

Zitierempfehlung: Katzek, Meike: “Grauzonen der Freiwilligkeit. Podiumsdiskussion zur Bedeutung „freiwilliger“ Mitwirkung an nationalsozialistischen Verbrechen”, Freiwilligkeit: Geschichte – Gesellschaft – Theorie, März 2023, https://www.voluntariness.org/de/grauzonen-der-freiwilligkeiten/.

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