Into the (Urban) Wild

Frau mit Rucksack geht durch den Wald
Pia Herzan

von Pia Herzan

Pia Herzan ist Historikerin an der Universität Erfurt

Freiheit und Freiwilligkeit im Gehen

Die historisch-philosophischen Anfänge der Freiwilligkeit liegen, wie bei der Ästhetik des Gehens, in der Antike, genauer gesagt in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Freiwilligkeit ist gegeben, wenn die Fähigkeit vorhanden ist, anders zu handeln. Der britische Philosoph John Hyman ergänzt diese Definition, indem für ihn eine Handlung dann freiwillig ist, wenn sie nicht unwissentlich oder durch Zwang vollzogen wurde. So ist die Freiwilligkeit einer Handlung zugleich die Bedingung die Selbstführung eines Menschen zu beurteilen. Der folgende Blogbeitrag wird diese philosophischen Überlegungen Hymans auf das Gehen übertragen.

Das Gehen unterscheidet sich in diversen kulturellen Kontexten und Formen sowie durch das Zurücklegen einer gezielten Strecke. Als habituelle Praxis kann die Körpertechnik des Gehens unterschiedliche Formen ausbilden, je nach Gesellschaft sowie je nach sozialen Habitus. Zugleich kann ein Gehen auch widerständig, gar eigensinnig sein, indem es sich dem Zwang eines ökonomisierten Alltags widersetzt und stattdessen beglückend und ungezwungen, in Form eines Schlenderns, Spazierens oder Flanierens ausgeübt wird. Andreas Hetzel bezeichnet diese Art des Gehens als eine Praxis, die ihren Zweck in sich selbst hat, freudvoll und selbsttransformativ ist – eine genuin ästhetische Praxis, mit der sich das Subjekt in jedem Schritt dem Regiert-Werden zu entziehen sucht und die so zugleich eine politisch widerständige Form annimmt. Doch können wir heute noch eine solche Form des Gehens überhaupt praktizieren – selbstbestimmt und selbstzweckhaft sowie freiwillig und frei?

Grenzen des freien Gehens in der Wildnis

Schon im 19. Jahrhundert begab sich Henry David Thoreau auf literarische wie auch faktische Streifzüge durch die nordamerikanische Wildnis, in denen er sich einer Gesellschaft entzog, deren Alltag durch einen verstärkten ökonomischen Rechtfertigungsdruck geprägt war. Sein Ziel war ein Wandern ohne Karten und Grenzen, bei dem man im Idealfall sogar seine Heimat im Durchstreifen der Wildnis findet und für das es keinen Endpunkt gibt. Doch gibt Thoreau bereits 1862 zu bedenken, dass es aufgrund der zunehmenden Privatisierung von Land immer schwieriger bis unmöglich wird, von den Wegen abzukommen und sich in der Wildnis zu verlieren. Ist ein ästhetisches widerständiges Gehen, wie Thoreau es zu praktizieren suchte, in unserer Zeit noch möglich? Heutzutage werden, nicht nur in Deutschland, Spaziergänger*innen mit „Nur auf den Wegen“-Schildern, aus Schutz für die Natur oder als Abgrenzung zu Privatgeländen, durch die Landschaft geleitet. Die US-amerikanische Schriftstellerin Rebecca Solnit erklärt bereits 2001, dass das goldene Zeitalter des ländlichen sowie städtischen Gehens durch das Verdrängen von öffentlichem Raum, der Stellung des Autos und des Voranschreitens von Technologien passé sei. Äußere Umstände beeinflussen drastisch die Ausübung des Gehens, da die Freiheit, frei zu entscheiden wo oder wohin man gehen will, stark beschnitten wird. Doch wurde dadurch nicht die Möglichkeit genommen, die Handlung des Gehens freiwillig zu vollziehen. Bewusst und einwilligend kann man die verbliebene Wildnis noch durchstreifen, doch die freie Wegwahl ist begrenzt. So stellt auch Rebecca Solnit fest: “Freedom to walk is not much use without someplace to go” (Solnit, 2002: 249). Wenn das Gehen als praktische Handlung somit stets in einen Kontext gebettet ist, der die Ausführung der Praxis beeinflusst, dann können wir von Thoreau zwar zu lernen versuchen, frei in unseren Körpern und somit in unserem Geist zu sein, doch müssen zugleich anerkennen, dass die Freiheit der Mobilität maßgeblich durch externe Zwänge beeinflusst wird und das Gehen so gegebenenfalls nicht oder nur stark eingeschränkt ausgeübt werden kann. So wird die praktische Wahl des Ortes zwar beschränkt, doch die buchstäbliche Wahl im freien Entschluss des Gehens existiert weiterhin. So lange also akzeptable Wahlmöglichkeiten zur Verfügung stehen, untergräbt der äußere Zwang zwar die Freiwilligkeit, doch negiert diese nicht.

Widerständigkeit oder freiwillige Unterwerfung beim Gehen in der Stadt

Auf dem Asphalt zu botanisieren, wie der Flaneur bei Walter Benjamin, bedarf der Schulung, denn sich in der Stadt zu verlieren ist anders als in der Wildnis. So muss der urbane Flaneur sich die Straße als öffentlichen Raum für das Private erst aneignen. Sein Widerstand richtet sich gegen die architektonische und räumliche Gouvernementalität sowie die aufoktroyierte Ordnung des Sozialen. Benjamin bezieht sich, ähnlich wie der französische Dichter Charles Baudelaire, auf das neue Pariser Stadtbild der großen Boulevards des Georges Eugene Hausmann. Flanieren als ästhetische Praxis entsteht, indem sich der Flaneur durch die Straßen von Paris treiben lässt und sein Schlendern mit einer Langsamkeit ausübt, die dem eiligen Treiben der Stadt diametral gegenübersteht. Der Flaneur treibt ohne Ziel in seinem Müßiggang durch die Großstadt und steht so im offenen Widerstand gegenüber der arbeitsteiligen, zweckbestimmten Moderne. Im Fast Lane-Leben des heutigen Hyperkapitalismus, das überwiegend den Alltag der Menschen bestimmt, scheint der Müßiggang des Flaneurs fast verloren gegangen zu sein. Doch neue Formen der Entschleunigung durch diverse Slow-Bewegungen (Slow Living, Slow Travel, Slow Eating), sowie die Zurückeroberung der Städte durch die Fußgänger*innen, während und vielleicht auch nach der Corona-Krise, können dem Flaneur gegebenenfalls zu einem Comeback verhelfen.

Mann mit Rucksack geht auf Bürgersteig

Dem Vorantreiben der kapitalistischen Urbanisierung setzt Michel de Certeau das Gehen als Raum der Äußerung, der zur Realisierung des Ortes führt, entgegen. Diese Art der Raumentstehung fehlt in der vorgeschriebenen Ordnung der Stadtkarten und entgeht so der panoptischen Verwaltung der Stadt. Doch können wir uns wirklich dem alles sehenden Blick des Stadtplaners oder des urbanen Sicherheitsdispositivs auf diese Weise entziehen? Urbane Räume sind zunehmend von einer technokratischen Machtausübung, die bereits Bentham und Foucault analysierten, geprägt. Diese zeigt sich insbesondere in der ständigen Zunahme an digitalen Überwachungsmaßnahmen in den Innenstädten der Industrienationen, z. B. in der City of London mit über 15.000 angebrachten Kameras. Unbeobachtet oder frei bewegen sich die städtischen Spaziergänger*innen nur noch selten durch die “Scanscapes” der urbanen Räume. Doch bilden sich gerade im wechselseitigen Prozess der ästhetischen Praxis der “Citification”, zwischen dem Objekt der Stadt und dem Subjekt des Gehenden, “Bodies-Subjects” heraus. Die Ausübung des Gehens wird freiwillig als bewusste und einwilligende Handlung des Subjekts ausgeübt, wenn gleich sie, wie aufgezeigt, keinesfalls frei von äußeren Zwängen der “Carceral City” ist. Wie frei bewegen sich also Großstadtbewohner*innen in einem kontrollierten urbanen Raum, der die Wahl der Wege beeinflusst und dessen Kontrolle man sich zu entziehen versucht, indem man sich bewusst auf unbeobachtete und somit dann doch wieder vorgefertigte Wege begibt? Die Freiheit der Wahl, unbemerkt in unangepasster Geschwindigkeit eigene Wege zu gehen, ist begrenzt. Doch unterwerfen sich die meisten Stadtbewohner*innen freiwillig dieser urbanen Machtstruktur und folgen routinierten Abläufen des morgendlichen Pendelns, des täglichen Workouts oder reglementierten Shopping-Abläufe.

Die Freiheit zu gehen: Grenzenloses freiwilliges Gehen?

Jegliches Gehen hängt von der Freiheit der uns zur Verfügung stehenden Mobilität ab. “Freedom is about choices which we face, and voluntariness about choices we make” (Olsaretti 1998: 53). Freiheit bedeutet frei sein zu handeln, wohingegen Freiwilligkeit bedeutet frei zu handeln. Daher ist es die mangelnde Freiheit und nicht die Freiwilligkeit, die durch örtliche und gesellschaftliche Beschränkungen das Gehen reguliert. Dies bekräftigt auch Judith Butler, die jede Handlungsfähigkeit in Bezug zu einem ermöglichenden und begrenzenden Feld von Zwängen stellt. Im Unterschied zu den Beschränkungen der Handlungsfreiheit ist es nach John Hyman jedoch die Freiwilligkeit einer Handlung, die erst die Selbstführung eines Menschen beurteilt. So kann die Entscheidung des Gehens freiwillig getroffen werden, doch ist dessen Ausführung von externen Umständen abhängig.

Ästhetisches Gehen kann in der heutigen Zeit somit zwar selbstbestimmt und freiwillig vollzogen werden, doch verfolgt es immer einen Zweck oder untersteht Regulierungen, ob bei Aristoteles und seinem Ziel des Philosophierens, bei Thoreau, der sich zwar für einen Moment in den Wäldern verlieren kann, um dann doch nach einer bewussten Verstreuung irgendwann seinen Spaziergang zu Hause zu beenden, oder beim Flaneur, der sich geflissentlich gegen die aufoktroyierte urbane und soziale Ordnung richtet.

Zitiervorschlag: Herzan, Pia: “Into the (Urban) Wild. Freiheit und Freiwilligkeit im Gehen”, Voluntariness: History – Society – Theory, Juli 2021, https://www.voluntariness.org/de/into-the-urban-wild/

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