Castles of Sand?

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Philipp Schink

By Philipp Schink

Philipp Schink ist Philosoph an Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg.

Castles of Sand? Zur Bedeutung freiwilliger Kooperation für eine gute Gesellschaft

Ich würde gerne einen Gedankengang in Erinnerung rufen, der sich sowohl in der anarchistischen als auch liberalen Tradition finden lässt. Dieser betont die Bedeutung freiwilliger Kooperation für eine gute Gesellschaft und hat eine klar staatskritische oder zumindest -begrenzende Ausrichtung. Der Gedankengang ist im vorliegenden Kontext weniger aufgrund seiner etwaigen politischen Implikationen interessant, sondern weil er erstens Einsichten in Bezug auf Praktiken freiwilliger Kooperation bietet und zweitens einen Vorschlag hinsichtlich der spezifischen Bedeutung von ungezwungenen Handlungsweisen und Interaktionen unterbreitet. Ausgehend von ihm lassen sich Erkenntnisse formulieren, die eine allgemeinere Gültigkeit besitzen. In Bezug auf die neoliberal wastelands, die der Rückzug des Wohlfahrtsstaats seit den 1980er Jahren hinterlassen hat, bietet dieser Gedankengang zudem nochmals andere Kritikressourcen. Die Annahme, dass sich Gesellschaften, nach der staatlichen Kolonialisierung kooperativer Praktiken, regieren ließen, indem den Individuen nun die Verantwortung für soziale Leistungen, die immer nur durch eine Zusammenarbeit vieler gewährleistet werden können, zugeschoben wird, ist nicht nur aufgrund abgebauter Rechtsansprüche auf diese Leistungen problematisch. Vielmehr können diese sozialen Leistungen schlichtweg nicht erbracht werden, da sie selbst von einem Netz kooperativer Praktiken abhängen, die nicht einfach spontan entstehen oder instituiert werden können.

Freiwillige Kooperationspraktiken und die staatliche Durchdringung sozialer Verhältnisse

The train of thought with which we are concerned here goes something like this:

Enter community. Angenommen, eine gute Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr Menschen in einer gemeinwohlfördernden Weise freiwillig zusammenarbeiten. ‚Gemeinschaften‘ werden in erster Linie als Zusammenhänge kooperativer Praktiken begriffen, und kooperative Überzeugungen und Ansichten sind Effekte dieser Praktiken. Interaktionen lassen sich, so der Gedankengang weiter, nicht als eine Aggregation von egoistischen Motivationen analysieren oder erklären, d.h. die einzelnen Kooperationsweisen oder -routinen sind stets nicht im strikt egoistischen Interesse eines Teils der Kooperierenden. Solche ‚altruistischen‘ Kooperationspraktiken bestehen aus Gründen der Notwendigkeit und lassen sich durch die Einnahme eines social point of view erklären: ohne die Beteiligung an solchen Kooperationspraktiken können bestimmte soziale Güter und Leistungen nicht bestehen. Die Beteiligung wird darüber hinaus durch eine Mischung aus Lob und Tadel, die niedrigschwellige soziale Sanktionen kleinerer Communities auszeichnet, im Großen und Ganzen abgesichert. Die einzelnen Gemeinschaftsmitglieder wachsen durch eine Beteiligung an den kooperativen Praktiken in die Verantwortung für diese hinein. Freiwilligkeit wird als Abwesenheit staatlichen Zwangs verstanden, nicht aber so, dass Akteur*innen nicht dem Einfluss anderer ausgesetzt sind oder dass sie stets gemäß ihrer eigenen Wünsche handeln könnten.

Exit Community, enter State. Was passiert mit dem sozialen Gewebe kooperativer Praktiken, wenn deren Funktionen von staatlichen Institutionen übernommen werden, wenn der Staat also die sozialen Güter und Leistungen bereitstellt? Und was bedeutet die staatliche Durchdringung sozialer Verhältnisse aus einer herrschaftskritischen Perspektive? Die Übernahme solcher Leistungen durch den Staat, so der Gedankengang weiter, führt zu einer Rückbildung von sozialen oder altruistischen Kooperationsweisen und folglich Einstellungen. Die schwindenden kooperativen Einstellungen bringen mit sich, dass die Bereitschaft erodiert, mittels einer Besteuerung soziale Leistungen zu gewährleisten. Dies zieht wiederum nach sich, dass kurzfristig offener staatlicher Zwang stärker ausgeübt wird und es langfristig dazu kommt, dass der Staat weniger soziale Leistungen übernimmt. Jedoch sind inzwischen die sozialen Verhältnisse, Handlungsweisen und -routinen einer freiwilligen Kooperation soweit durch die staatliche „Leistungsübernahme“ erodiert, dass diese den Rückzug des Staates nicht mehr auffangen können. Staaten, so die Pointe dieses Gedankengangs, untergraben ihre eigenen Grundlagen und weiten auf diese Weise ihre Macht immer weiter aus. Sie hijacken soziale Kooperationsweisen, ersetzen diese und untergraben damit das Bestehen von ‚pro-sozialen oder altruistischen Einstellungen‘.

Das Schwinden der Freiwilligkeit?

In Bezug auf Freiwilligkeit möchte ich zwei Punkte an diesem Gedankengang herausstellen. Zunächst wird davon ausgegangen, dass die Kooperationsbereitschaft davon abhängt, dass sie tatsächlich ausgeübt wird. Interessant ist, dass Motivationen und Überzeugungen hier als Effekte von Handlungsroutinen erklärt werden – sie sind diesen somit nicht vorgängig. Zudem sind sie abhängig von der Fortexistenz dieser Routinen. Die tugendethische Annahme beispielsweise, dass Akteure*innen stabile ethische Dispositionen erwerben, die es ermöglichen, dass die Akteur*innen unabhängig davon, ob es kooperative Praktiken gibt oder nicht, jeweils altruistisch handeln, wird von diesem Gedankengang bestritten. So gesehen gibt es keine altruistische Motivation ohne altruistische Praxis.

Der zweite Punkt besteht in der spezifischen Erklärung der Bedeutung von Freiwilligkeit. Eine freiwillige Kooperation wird als instrumentell erforderlich angesehen, um gute soziale Verhältnisse zu schaffen, d.h. Freiwilligkeit kommt ein instrumenteller Wert zu. Ohne freiwillige Kooperation keine Gemeinwohl-Leistungen – vor allem nicht auf Dauer. Die Pointe dieses Gedankengangs besteht gerade darin, dass der Annahme, erst staatlich garantierte Rechtsansprüche würden bestimmte soziale Leistungen auf Dauer stellen, eine grundlegend andere Auffassung entgegengestellt wird: erst die von staatlichem Zwang freie Kooperation garantiert soziale Leistungen auf Dauer. Zwang, so muss man den Gedankengang verstehen, verdrängt andere Motivationen: ist man gezwungen in einer spezifischen Weise zu handeln, dann besteht die Motivation zumindest auch darin, die angedrohte Sanktion zu vermeiden; sie besteht nicht mehr (oder nicht mehr ausschließlich) darin, altruistisch zu handeln. Gerade in der Kombination mit dem Umstand, dass die staatliche Bereitstellung sozialer Leistungen Praktiken freiwilliger Kooperation ersetzt und auflöst, führt dies langfristig dazu, dass altruistische Einstellungen schwinden.

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Natürlich ist eine gewisse Skepsis geboten, wenn man diesen Gedankengang historisch deutet: sicherlich bestand die Welt vor der zunehmenden Durchdringung des sozialen Gewebes durch staatliches Handeln nicht aus lauter wunderbaren Kooperationszusammenhängen. Natürlich ließe sich auch fragen, ob die Übernahme von Leistungen durch den Staat immer kooperationsunterminierende Effekte hat, oder ob dies nicht nur unter Bedingungen wie jenen eines soziale Netze auflösenden Kapitalismus zu beobachten wäre. Aber der Gedankengang gibt doch eine kluge Gegensicht zu der Idee, dass die Durchsetzung von Staatlichkeit kein etwa auf die Etablierung von Kontrollverhältnissen zielendes Herrschaftsprojekt gewesen sein soll. Auch setzt der Gedankengang einen Kontrapunkt zu den leider in der tagesaktuellen Debatte häufig zu findenden Appellen an den Eigenwert der Freiwilligkeit, etwa wenn es um die Einführung von Quoten oder Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen geht. Der Bezug auf Freiwilligkeit dient hier der grundlegenden Abwehr moralischer Forderungen. Entsprechend oft lassen sich diese Appelle als kläglicher Versuch der begrifflichen Nobilitierung der eigenen Asozialität erkennen. Demgegenüber hebt der vorgestellte Gedankengang gerade auf die Bedeutung von freiwilligen Kooperationspraktiken für Gemeinwohl-Leistungen und altruistische Einstellungen ab.

Heißt dies alles nun aber, dass der Abbau sozialstaatlicher Sicherheiten und Leistungen, den alle ehemaligen westlichen Wohlfahrtsstaaten seit den neoliberalen Attacken der 1980er Jahre und darüber hinaus erfahren haben, diesem Gedankengang zufolge begrüßenswert wäre? Nein, natürlich nicht. Die Annahme ist ja gerade, dass es durch die Ausweitung von staatlicher Herrschaft zu einer Rückbildung und einem Absterben von freiwilligen kooperativen Handlungsweisen kommt. Solche Kooperationspraktiken lassen sich nicht einfach wieder instituieren. Man kann sich dies mit dem Bild einer Sandburg verdeutlichen, über die Flutwellen hinweggehen. Nach drei-vier Wellen ist von der Sandburg nur mehr flacher Strand übrig.


Leseempfehlungen von Philipp: Silke van Dyk/Tine Haubner, Community-Kapitalismus, Hamburg 2021; Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, Berlin 2018; James C. Scott, Seeing like a State, New Haven 1998; Michael Taylor, Community, Anarchy & Liberty, Cambridge 1982.

Zitiervorschlag: Schink, Philipp: “Castles of Sand? Zur Bedeutung freiwilliger Kooperation für eine gute Gesellschaft”, Voluntariness: History – Society – Theory, Februar 2023, https://www.voluntariness.org/de/castles-of-sand/.

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